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„Eine Linie entlarvt die Ratio.“ – Über die Zeichnungen von Myriam Beltz

Im neuen Erscheinungsbild des ifp spielen ihre Zeichnungen eine wesentliche Rolle: Myriam Beltz verriet uns im Gespräch Überraschendes über ihre Linien. Der Entstehungsprozess und die Intention der Künstlerin vermitteln auch, warum unsere Zusammenarbeit so gut passt.

Myriam Beltz in ihrem Studio

Um zu verstehen, was es mit diesen Linien auf sich hat, blenden wir einige Jahre zurück. Beltz schreibt jeden Morgen Tagebuch. Irgendwann sind es keine Worte mehr, sondern Zeichen. Die Buchstaben lösen sich auf, sie sind ohnehin ursprünglich Linien. Aus der Abstrahierung entwickelt sie für sich eine eigene Sprache in neuen Chiffren. Über die Jahre füllt sie rund 50 großformatige Bücher à 150 Seiten. Diese Bibliothek wächst dann auf Instagram weiter, seit sechs Jahren sind rund 2200 Zeichnungen auf ihrem Account zusammengekommen. Es ist eine Reise durch ihr Leben und ein Protokoll ihrer künstlerischen Selbstfindung. Anfangs noch ganz figürlich, werden ihre „daily drawings“ immer abstrakter, bis es reinste Linien sind. Meditationen über die Linie als solche.
„Ich glaube, dass alles, was jemals geschaffen wurde, eine Linie war. Unser Denken war zunächst eine Linie, die ersten künstlerischen Zeugnisse der Vormenschen sind Linien, bis sich komplexere Höhlenzeichnungen entwickeln, Symbole und dann Schriftsysteme. Ich versuche den evolutionären Weg zurückzugehen, zur „Urlinie“ zu kommen. Da ist etwas zutiefst Menschliches, dem ich nahe sein will. Gleichzeitig wirkt diese Kraft, oder wie man es nennen mag, auch durch mich hindurch und aus mir heraus, wenn ich zeichne. Die Linien kommen von innen.“

„Da ist etwas zutiefst Menschliches, dem ich nahe sein will.“

Die Art, wie Beltz zeichnet, ist ganz entscheidend. Am Beispiel einer Wolke erklärt: Die meisten würden deren Umriss abbilden – Beltz würde ihren physikalischen Aufbau umsetzen. Niemals würde sie eine Linie dazu „missbrauchen“, eine Wolke oder ein Haus figürlich zu malen. Ihre Kunst hat nichts mit angewandten Linien zu tun, wie sie in der Architektur beispielsweise einen Zweck zu erfüllen haben. „Meine Linien sollen frei sein. Damit die Linie nur Linie sein darf.“

Daily drawings: 30. April 2022 (links) und 20. November 2022 (rechts),
Pigment Liner auf Papier, 26 × 18 cm

Ob freie Arbeit (daily drawings) oder Auftragsarbeit wie in unserem Fall: „Ich gehe ohne Intention ans Werk. Ich zeichne auf, was kommt.“, sagt Beltz. Im Vergleich zur freien Arbeit ist eine Auftragsarbeit aber schwieriger. Es gibt ein Thema. Darauf, so sagt sie, ließe sie sich einige Tage ein als assoziative Welt, und dann sei es ein bisschen so, als sei sie eine Schauspielerin, die in einer Rolle aufgeht. Das zentrale Gefühl will sie manifestieren. Geht es beispielsweise um organisches Wachstum, vollzieht sie mit dem Stift auf dem Papier das Gefühl von Vitalität, Wachsen, Verzweigen, Aufstreben nach.

Aus dieser Hingabe erwächst auch die spürbare Qualität ihrer Kunst. „Wenn Linien gut gemacht sind, haben sie einen hohen Grad an Lebendigkeit. Sie haben nichts Falsches an sich, im Sinne von „der schöne Schein“, wie ich es Illustrationen zuschreiben würde. Einer Linie wohnt das Wesentliche inne, ehrlich und pur. Da ist diese Vibration, die ich versuche zu fassen, die mich bewegt und Gefühle in anderen erzeugt. Eine Linie entlarvt die Ratio. Dieser Effekt stellt sich ja auch auf der Website von ifp dar. Als würde mit dieser weiteren Dimension das Ganze auch im Unterbewussten vollständig. Mir war sofort klar, dass ich das Gesamtergebnis für ifp verstärken kann, als ich eingeladen wurde. Hier sind viele am Werk, die tiefer schauen möchten und die Rezeptoren dafür haben. Leute, die einen künstlerischen, auch psychologischen Blick haben für Dinge, die jenseits der Ratio liegen.“

„Einer Linie wohnt das Wesentliche inne, ehrlich und pur.“

Trotz der vielen Jahre, in denen Myriam Beltz sich mit der Linie auseinandersetzt, geht ihre Entwicklung immer weiter. Es passiert ständig Neues. Es bleibt aber auch immer etwas Universelles stehen. Dinge, die alle Menschen erleben. Der Fluss des Lebens mit allem, was darin ist.

Während der Fernseher nebenher als Weltgeräusch läuft, passiert es, als Beltz für einen Augenblick hinschaut. Eine Buchvorstellung, auf dem Titel eine Brille – da weiß sie, wie sie das Thema Passung interpretieren wird. Lässt sich auf die Form ein und zwei gleiche Kreise entstehen. Das buchstäbliche Einkreisen des Sollzustandes, das Umkreisen im Zuge der Passungsfragen, die symbolträchtige Brücke – alles ist am Ende in der Zeichnung enthalten.

Ein anderer Zufall funkt in ihrer Arbeit am symbolischen Seismografen. „Ich dachte zuerst, das würde einfach so ein Zickezacke. Das Thema sollte ja auch etwas vom Herzschlag haben. Nebenbei lief ein Film, ein Geiger übt ein Präludium von Bach, verbissen angefeuert von einer Cellistin als Lehrerin. Diese Sprünge, rauf und runter! Indem ich mich auf die Musik eingelassen habe, hat die Linie auf einmal diese Spannung bekommen. Diese Energie von Bach ist nun darin.“

Wenn Sie das nächste Mal auf unserer Startseite landen und sich fragen, warum Sie diese einfachen Linien irgendwie gut finden: Myriam Beltz hat diese Zeichnung mit geschlossenen Augen, in völliger Stille, unter dem Eindruck von absoluter Anwesenheit gemacht. Mit beiden Händen gleichzeitig, die sich von den Blatträndern sehr langsam, fast zaghaft aufeinander zu bewegen.

Myriam Beltz auf Instagram.
myriambeltz.com